Schottisches Referendum

Unzufriedenheit mit London bleibt

Beim Referendum über die staatliche Unabhängigkeit haben die Schotten mehrheitlich mit Nein gestimmt. Der britische Premier David Cameron gab im Vorfeld zu, dass er aufgrund des ungewissen Wahlausgangs nervös sei. Lange Zeit galt ein negativer Wahlausgang als gewiss; erst als sich ein starker Stimmungswandel Richtung Unabhängigkeit abzeichnete, reagierte die Regierung mit der Aussicht auf weitere Autonomie für Schottland. Interessanterweise war es Cameron selbst, der 2012 den Vorschlag des SNP-Chefs Alex Salmond zu einer dritten Antwortmöglichkeit im Referendum (Ausweitung der Autonomie bei gleichzeitigem Verbleib in der Union) zurückwies und auf der Zuspitzung “Unabhängigkeit – ja oder nein?” bestand. Vielleicht hoffte er so, die Debatte nach dem Referendum zu beenden. Nach der Abstimmung bleibt nun die Erkenntnis, dass sehr viele Schotten, aber auch zunehmend Engländer, Waliser und Nordiren mit den  bestehenden Verhältnissen im Vereinigten Königreich weiterhin unzufrieden sind. Die Debatte wird sich also fortsetzen.

Cameron: “Mir würde das Herz brechen…”

Vor dem Referendum sagte Cameron: “Mir würde das Herz brechen, wenn es diese Nationenfamilie auseinanderrisse.” Er bot den Schotten wenige Tage vor der Abstimmung überraschend die zuvor ausgeschlossene dritte Möglichkeit an, aber nur dann, wenn diese mit “Nein” gegen die Unabhängigkeit stimmen. Ansonsten gebe es “kein Zurück”, erklärte er. Es könnte genau diese Mischung aus Umschmeichlung und Drohungen sein, die viele noch unentschiedene Wähler in Schottland als widersprüchlich empfanden und dazu bewog, für die Unabhängigkeit zu stimmen, auch wenn es keine Mehrheit für diesen Schritt gab.

Reformen in Schottland, Reformstau in England

Schottland und England haben sich in den letzten Jahrzehnten politisch und gesellschaftlich immer weiter auseinanderentwickelt. Auch wenn es viele verbindende Elemente in der Identität gibt, so haben sich die Schotten – ablesbar an den  Wahlergebnissen – vom konservativen Nach-Thatcher-Liberalismus deutlich entfernt. Gerade ein einziger Wahlkreis in Schottland wird von einem konservativen Abgeordneten gehalten. Für das schottische Parlament gilt das Verhältniswahlrecht, für das Unterhaus hingegen weiterhin das Mehrheitswahlrecht. Schottland wollte im Falle einer Unabhängigkeit eine geschriebene Verfassung verabschieden. Das Vereinigte Königreich ist nämlich das einzige Land in der EU und im britischen Commonwealth, das immer noch keine Verfassung besitzt. Eine zweite Parlamentskammer wie das britische Oberhaus mit ernannten (nicht gewählten) Abgeordneten, die zwar weitreichende Befugnisse haben, aber keine demokratische Legitimation, soll es in Schottland nicht geben.

Großbritannien steht vor einer Föderalismusdebatte

Schottland hat höhere Sozialausgaben als das restliche Vereinigte Königreich; die Universitäten erheben keine Studiengebühren. Insgesamt bewegt sich Schottland immer weiter hin zu einem eher europäisch geprägten Gesellschaftsmodell sozialer Marktwirtschaft mit reformierten Institutionen, während sich die zentralen politischen Institutionen in London in der Nach-Thatcher-Ära gegenüber Reformen weitgehend resistent zeigten und sich England eher für ein marktliberales amerikanisches Modell entschied. Im gesamten Vereinigten Königreich gab und gibt es zwar auch immer wieder Debatten um poltitische Reformen zum Wahlsystem, zur Legitimation der Oberhausabgeordneten, zu weiterer Dezentralisierung, zu mehr Autonomie auch für andere Regionen wie Wales und Nordirland, aber die meisten Projekte geraten nach einer Diskussionsphase ins Stocken und verlaufen im Sande.

Das Referendum konfrontiert nun auch England mit konstitutionellen Fragen und inneren Reformen. Am Wahlabend schlugen mehrere britische Politiker vor, England solle künftig über seine Belange selbst entscheiden, auch wenn Schottland in der Union verbleibt. Das bedeutet, auch England könnte ein eigenes englisches Parlament wählen lassen. Das wäre der Beginn einer ernsthaften Föderalismusdebatte im Vereinigten  Königreich.

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